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Wenn ich einen Börsenmythos benennen müsste, der sich gerade auf Twitter, YouTube etc. am längsten hält, dann wäre es sicher die maßlose Überschuldung von VW, Ford, BMW sowie aller anderen alteingesessenen Autohersteller und ihre baldige Pleite. Volkswagens Schulden in der Bilanz als Argument dafür zu nehmen, dass das Unternehmen in absehbarer Zeit pleite geht, ist mindestens problematisch. Teilweise gewinne ich das Gefühl, dass man es nicht besser weiß und teilweise, dass man es nicht besser wissen ‘will’. Für die erste Gruppe bin ich nochmal in Volkswagens Balance Sheet abgetaucht, um den Unterschied zwischen den klassischen Autoherstellern und dem Großteil aller anderen Unternehmen herauszustellen. Keine Sorge, ihr müsst so gut wie keine Vorkenntnisse haben, um den Sachverhalt zu verstehen.
Schaut dazu auch gerne mein Video:
Autohersteller als höchstverschuldete Unternehmen der Welt - Ein weit verbreiteter Mythos
Ich übertreibe tatsächlich nicht, wenn ich sage, dass ich jeden zweiten Tag auf Twitter vom “Zombieunternehmen” Volkswagen lese, das angeblich das höchstverschuldete der Welt sei. Ich hatte vor einiger Zeit bereits schon mal einen langen Thread auf Twitter geschrieben, den ich hier als Grundlage nehme, aber nochmal deutlich erweitere, um weitere Argumente zu entkräften.
Einige Meinungen von Twitter habe ich mal in dem nachfolgenden Bild gesammelt und ich kann euch versprechen, dass ich nicht lange suchen muss, um auf diese Meinungen zu treffen. Ich habe die Tweetverfasser aus Rücksichtnahme entsprechend geschwärzt, da es mir nicht darum geht sich über die Personen lustig zu machen, sondern darum zu verdeutlichen wie weit verbreitet diese Meinung ist.

Doch nicht nur in Social Media wird über die hohe Verschuldung dieser Unternehmen geschrieben. Auch bei Auto-Motor-und-Sport, T-Online.de, faz.net, boerse-online.de und vielen anderen namhaften Medien stoßen wir auf die Schlagzeile der vor allem deutschen, hochverschuldeten Autobauer. Ist man dann einer der 8 Leute, die im Jahr 2022 einen Artikel nicht nur bis zur Schlagzeile gelesen haben, kann der Satz “das liegt jedoch an der Finanzierungssparte” hin und wieder gelesen werden, was jedoch bei allen genannten Beispielen nicht weiter erklärt wird. Zudem gibt es auch immer wieder Artikel, welche die Finanzierungssparte ganz außer Acht lassen. Wer sich noch nie mit der Thematik beschäftigt hat, hat folglich wenig Chancen den Unterschied zu anderen Unternehmen zu verstehen.
Blick in die Bilanz von Volkswagen

Gleich vorweg: Ich beziehe mich im Nachfolgenden auf den Jahresbericht 2021 von Volkswagen, da ich ein gesamtes Jahr in die Betrachtung nehmen wollte. Die Aussagen könnt ihr aber auch problemlos auf die Quartalsberichte übertragen.
Schaut man auf Volkswagens Bilanz (AR 2021) könnte man zunächst denken, dass die Annahme einer massiven Verschuldung korrekt ist. Eben diese Annahme unterschlägt aber wie Volkswagen und andere Autohersteller finanziell strukturiert sind.
Neben dem operativen Teil des Unternehmens, also dem Bau und Vertrieb von Autos, haben sie in der Regel 100%-ige Tochterunternehmen, die agieren wie Banken. Die Assets (Vermögenswerte) dieser Töchter sind überwiegend finanzieller Natur, also Forderungen und Kredite, und werden meistens mit eigenen Balance Sheets in den Filings ausgewiesen, während die Assets aber dennoch im ‘Haupt’-Balance-Sheet integriert sind. So beispielsweise das Financial Services Segment von Volkswagen. Diese Töchter sind in der Regel sehr stark geleveraget, steigern also ihre Eigenkapitalrendite durch Aufnahme von Schulden.
Beim Blick auf das Financial-Services-Segment fällt auf, dass den Verbindlichkeiten von 192,4 Milliarden, Assets im Wert von 235,6 Milliarden Euro gegenüber stehen. Diese besten zum größten Teil aus Forderungen aus Kredit- oder Leasingverträgen mit Kunden sowie Bankeinlagen. Wer den Fehler macht nur die Schulden, aber nicht die ausstehenden Forderungen in seine Betrachtung von VW einzubeziehen, kommt zu erheblich verfälschten Ergebnissen, da die Verbindlichkeiten durch die Assets mehr als ausgeglichen werden.

Um das nochmal zu verdeutlichen: Würden wir Banken anhand ihrer Verbindlichkeiten, aber nicht anhand der diesen gegenüber stehenden Forderungen bewerten? Ja? Dann habe ich schlechte Nachrichten für alle JP-Morgan Aktionärinnen und -Aktionäre. Euer Unternehmen hat Verbindlichkeiten in Höhe von 3,5 Billionen (Nein, das ist kein Schreibfehler), davon über 300 Milliarden Schulden, und gerade mal ein Eigenkapital in Höhe von 290 Milliarden Dollar.
Die Financial Services von VW agieren nach dem gleichen Prinzip. Sie geben unter anderem Bonds aus, nehmen Kredite auf und erhalten Bankkundeneinlagen mit denen sie dann die Autos finanzieren, welche Kunden wiederum bei VWs Distributoren oder bei VW direkt finanzieren oder leasen. Jede Bank agiert grundsätzlich nach dem gleichen Prinzip. Die Schulden sind keine Belastung ‘für’ VWs Geschäftsmodell, sie ‘sind’ das Geschäftsmodell. In Relation Günstige Geldaufnahme und gewinnbringende Verleihung des Kapitals. Damit hat VW im Jahr 2021 übrigens einen operativen Gewinn in Höhe von ca. 6 Milliarden Euro erzielen können. Scheint doch kein allzu schlechtes Geschäftsmodell zu sein, oder?
Das Automotive Segment und das Financial Segment sollten daher getrennt von einander betrachtet und bewertet werden, um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen. VW macht es uns dabei zum Glück leicht und listet die Assets getrennt in seiner Bilanz auf. Hieraus geht dann hervor welche Verbindlichkeiten auf den Finanzierungsarm und welche auf den Automobilbereich entfallen. Hier sollten gerade die ‘echten’ Schulden betrachtet werden, die größtenteils dem Financial Services zuzurechnen sind. Das ist etwas, was auch häufig durcheinander kommt. Als Verschuldung betrachten wir für gewöhnlich nur die zinstragenden Verbindlichkeiten, also Kredite, Bonds, Leases und je nach Auslegung auch die Pensionsverpflichtungen, die ich aufgrund ihrer Ausgestaltung auch immer mit dazu rechne.
Wie werthaltig sind die Assets?
Aus endlos langen Twitter-Diskussionen, die ich meist nur als Beobachter verfolge, weiß ich, dass nach dem Argument der Überschuldung der Autobauer, meist ein anderes hinzu kommt: Es könne ja durchaus sein, dass VW teilweise als Bank betrachtet werden muss und die Vermögenswerte die Verbindlichkeiten mehr als decken, aber wie werthaltig sind denn die zum größten Teil noch aus Verbrennern bestehenden Autoflotten angesichts des globalen Umstiegs auf das Elektroauto? Ergibt sich daraus nicht ein finanzielles Risiko, das in der Zukunft zum Tragen kommen könnte? Ein Gedanke, der grundsätzlich ja gar nicht so fern liegt, wobei ich gleich aus mehreren Gründen dem daraus folgenden Schluss auf die Werthaltigkeit der Assets widerspreche.
Betrachten wir dafür die im Financial Services Segment ausgewiesenen Forderungen. Wie ihr auch bereits in der vorherigen Übersicht aus Volkswagens Jahresbericht gesehen habt, fallen die “Financial services receivables” (Forderungen aus dem Financial Services Segment) zu einem Teil auf die “current liabilities” (kurzfristige Forderungen) und “noncurrent liabilities” (langfristige Forderungen). Erstere sind dabei Forderungen, die innerhalb eines Jahres fällig werden und VW zufließen, letztere alle Forderungen die nach über einem Jahr zufließen und somit theoretisch zu Cash werden.

Allein der kurzfristige Anteil der Forderungen beträgt dabei 56,5 Milliarden Euro, also Zahlungen, die VW zeitnah zufließen. Der langfristige Teil beträgt knapp 85 Milliarden Euro. Dieser Teil besteht zu 50 Milliarden “Receivables from financing” (Forderungen aus Finanzierungsverträgen) und 34 Milliarden “Receivables from finance leases” (Forderungen aus Leasingverträgen aus).
Wie Volkswagen selbst nochmal unter diesem Punkt zu erkennen gibt, sind die Forderungen durch die jeweiligen Fahrzeuge oder Pfandrechte gedeckt. Für diese Zahlungen ist der Fahrzeugwert auch irrelevant. Bei einer Finanzierung hat so oder so der Kunde das Restwertrisiko, aber auch bei Finanzierung-Leasing, also dem Leasing wie wir es hierzulande kennen und bezeichnen, werden die wesentlichen Chancen und Risiken auf den Kunden übertragen. Er merkt es nur häufig nicht. Das Fahrzeug wird aus den Assets von Volkswagen ausgebucht und eine Forderung in Höhe des “Net Investments” (Nettoinvestitionswert) wird eingebucht. Wie ihr sehen könnt fließt in dessen Berechnung erhöhend der nicht garantierte Restwert und reduzierend die noch nicht vereinnahmten Zinsen sowie ein Schätzwert für erwartete Kreditausfälle. Das “Net Investment” ist letztlich also ein Betrag, der ‘schlechter gerechnet’ wurde.
Volkswagen listet auch entsprechend auf, wann die Zahlungen zufließen. Der Großteil entfällt dabei auf die nächsten Jahre, was der gängigen Leasingdauer von 24 bis 36 Monaten entspricht.

Gut informierte Kritiker, würden selbst nach diesen Punkten noch einen weiteren Punkt anbringen: Was ist mit den Lease Assets für die Operating Leases? Kurz zur Unterscheidung: Finance Leases sind eher langfristige Leasingverträge, wie ihr sie in dem obigen Schaubild sehen könnt. Operating Leases sind dagegen eher kurzfristig ausgerichtet und eher als Pool zu verstehen, aus dem fortwährend Fahrzeuge vermietet werden. Es gibt noch viele weitere Unterscheidungen, aber diese sind für uns an dieser Stelle nicht relevant.
Beim Blick auf die Operating Leases wird dann deutlich, dass zwischen den Fahrzeug-Assets in Höhe von 59,6 Milliarden und den zu erwartenden “Lease payments” ein Ungleichgewicht besteht. Dies liegt aber eben in der Natur dieser kurzfristigen Verträge.

Die unter diesen Modalitäten vermietetet Fahrzeuge werden zu Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten aktiviert und dann linear über die Vertragslaufzeit auf den zuvor kalkulierten Restwert abgeschrieben. Wenn es nun der Fall wäre, dass die entsprechenden Fahrzeuge tatsächlich rasant an Marktwert verlieren, sodass dieser unter den Buchwert fällt, da wir wider Erwarten auf einmal ein Überangebot an Elektroautos haben, müsste Volkswagen gemäß der Buchhaltungsstandards IFRS (IAS 36) einen sogenannten Impairment-Test vornehmen, der dann zu einer außerplanmäßigen Abschreibung führt und sich entsprechend negativ auf das Asset in der Bilanz als auch das Income Statement auswirkt.
Die zugrundeliegenden Berechnungen des Marktwerts beziehen eben diese Aspekte, also Fahrzeugangebot, Fahrzeugnachfrageentwicklung sowie Preisentwicklung mit ein und werden von Externen kalkuliert. Wenn der Fahrzeug bzw. Asset-Wert sich also massiv reduzieren sollte, würde sich das in Volkswagens Bilanz auch sukzessive bemerkbar machen.

Selbst, wenn man die ganzen Buchhaltungsdetails außer Acht lässt, kommt man auch auf anderem Wege zu dem Punkt, dass Volkswagen und anderen Autobauern tendenziell kein massiver Wertverlust droht. Wie die viele von euch auch schon sicher entweder positiv oder negativ bemerken durften, sind sinkende Gebrauchtwagenpreise momentan eher kein Thema, durch die Decke schießende Preise dagegen schon eher. Zudem werden die Verbrenner nun nach und nach durch Elektroautos ersetzt.
Davon auszugehen, dass die Fahrzeug-Assets von VW in absehbarer Zeit keinen Wert mehr besitzen, erscheint mir daher weit hergeholt, ist jedoch auch nicht mein Hauptpunkt.

Wer jetzt noch Bedenken hinsichtlich der Werthaltigkeit der Forderungen hat, kann sich gerne sowohl die entsprechende Klassifizierung der Kredite seitens VW als auch die Ratings von S&P sowie Moody’s anschauen. Auch diese bewerten die Financial Services von VW übrigens getrennt.

Wie sollten die Schulden von Autoherstellern bewertet werden?
Wenn ihr die Kennzahlen von VW oder anderen Autobauern betrachten und bewerten wollt, solltet ihr grundsätzlich zwei Bewertungen machen. Eine für die Finanzsparte und eine für den Automotive-Bereich. Die Autohersteller listen glücklicherweise die Assets getrennt auf, womit ihr die Sparten jeweils sehr gut sich betrachten könnt.
Wenn ihr nun zum Beispiel die Verschuldung der einzelnen Sparten betrachten wollt, werdet ihr feststellen, dass der Hauptteil der Schulden, knapp 200 Milliarden Euro, auf die VW Bank entfällt. Dem gegenüber stehen 257 Milliarden an Assets, von denen 37 Milliarden durch Eigenkapital gedeckt sind.
Betrachten wir dann die Verschuldung des Automotive-Bereichs stellen wir fest, dass dieser Cash und Cash-Äquivalente in Höhe von ca. 43 Milliarden Euro hat und Finanzverbindlichkeiten in Höhe von 14,4 Milliarden. Die negative Zahl bei den “Current liabilities” kommt dabei in erster Linie durch Kredite zwischen dem Automotive- und Financial-Services-Bereich zustande. In dieser Betrachtung kämen wir dann sogar auf eine Net-Cash-Position von 28,6 Milliarden Euro. Beziehen wir die Pensionsverpflichtungen mit ein, wie es meinem Empfinden nach korrekt wäre, ergibt sich eine Cash-Position in Höhe von -12,2 Milliarden Euro und selbst das ist meinem Empfinden nach kein Grund zur Sorge.

Fazit
Eines möchte ich nochmal klarstellen. Nur weil ich die Verschuldung als nicht besorgniserregend betrachte, heißt das für mich nicht, dass ich die Autohersteller als gutes Investment betrachte. In meinem Depot hat die Automobilbranche tatsächlich wenn überhaupt nur über Umwege einen Platz. Beispielsweise durch einen Batteriehersteller. Ich bin allgemein kein Freund von zyklischen Unternehmen und die sowohl politischen als auch technologischen Umbrüche in der Automobilbranche lassen mich noch mehr Abstand nehmen.
Es ging mir hier lediglich um die häufig falsch interpretierte oder dargestellte Verschuldung. Einen baldigen Untergang aufgrund der Verschuldung sehe ich auf jeden Fall nicht. Volkswagens Beispiel lässt sich auch nahezu vollständig auf andere Autohersteller übertragen, aber auch auf Unternehmen wie John Deere. Natürlich solltet ihr dabei jedes Unternehmen individuell betrachten, um den finanziellen Zustand dieser nahzuvollziehen.
Wenn eins eurer Unternehmen eine ähnliche Finanzierungssparte hat, solltet ihr auf jeden Fall nicht den Fehler machen die Verschuldung eins zu eins mit anderen Unternehmen zu vergleichen, da sie der Motor für das Geschäftsmodell dieser Sparten sind. Das ist auch der Grund warum ich mich ungern auf die Zahlen vieler Finanzseiten vertraue, da sie den Unterschied zwar in der Regel bei Banken erkennen, aber eben nicht bei diesen Hybrid-Unternehmen. Ich empfehle daher sich immer die Mühe zu machen und selbst die Geschäftsberichte eurer Unternehmen zu durchforsten und euch eigene Gedanken zu machen. Was anfänglich lange dauert, wird dann irgendwann zur Routine.
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